Freitag, 21. Februar 2014

Assoziationen zu einer (Post-)Apokalyptischen Musik



Wenn die Welt auseinanderfällt, gibt es keinen festen Grund mehr unter den Füßen. Die Konstruktionen der Menschen krachen auseinander in dem Augenblick, in dem die Fundamente wegbrechen. Alle Erfahrungswerte werden ungültig in der Unberechenbarkeit des totalen Umsturzes, jede Perspektive trügt.

In dieser Situation gibt es nur das, was sich ganz direkt erfassen lässt, ein radikal beschnittener Horizont in Zeit und Raum. Nichts ist sicher, also muss alles mit Bedacht geschehen.

Ein Klang. Hören.

Dieser eine Klang scheint sicher zu sein. Ihn zu erzeugen, ihn zu hören, bedeutet: ich lebe. Wenn alles andere unklar ist, unsicher, gefährlich, dann ist diese Erfahrung, dieses Klingen und Hören: zuhause.

Vielleicht hatte dieser bestimmte Klang in der Alten Welt eine bestimmte Bedeutung, wurde auf ganz bestimmte Weise eingesetzt. Nach der Apokalypse ist diese Selbstverständlichkeit dahin. Die alte Bedeutung mag noch mitschwingen, aber das Zutrauen in die automatisierten Abläufe der Zivilisation ist dahin und wird nicht wiederkommen. An die Stelle standardisierter Selbstverständlichkeit tritt eine zaghafte Suchbewegung, vorsichtig und langsam.

Mehr nicht.

Zu dem einen Klang können noch eine Handvoll weitere dazu kommen, ein kleiner Radius der Begehbarkeit entsteht, ein kleiner Raum, in dem Beziehungen geknüpft werden können. Aber der Radius lässt sich nicht vergrößern; ist etwas aus dem Blickfeld, und das Blickfeld ist klein, dann ist es auch schon unsicher geworden, ungreifbar und im Versuch, es erneut aufzugreifen bleibt der Zweifel, ob es nicht ursprünglich ganz anders gewesen war. Das Vergewissern, Festhalten, Ausweiten, Aufbauen, dass, was menschliche Entwicklung, Geschichte ausmacht – es ist vorbei. Im kleinen Radius des Hier und in der Zeitlosigkeit des Jetzt lässt sich nichts errichten, was über ein provisorische Behausung hinaus gehen würde.

Wer will so leben? Wer kann so leben?

Beklemmung, Sinnlosigkeit.

Bloss weg, bloss hinein in die Zivilisation, das Funktionieren, die Geschichte.

Aber wer kann ganz auf diese Erfahrung verzichten?
Jeder ist konfrontiert mit dem totalen Zusammenbruch, spätestens mit dem eigenen Tod.

Bei musikalischen Gruppen-Expeditionen in Postapokalyptisches Klangterrain stelle ich regelmäßig fest: ich gerate nicht in Verzweiflung, sondern in Ekstase. Es mag eine Ekstase der Verzweiflung sein, denn gerade die Zaghaftigkeit der Suchbewegungen begeistert mich, das langsame vorwärts Stolpern ins Nirgendwo erfüllt mich mit Glück und Kraft. Als ob ein Druck abfällt, weil etwas ausgesprochen ist, was vorher bedrückte und sich im Moment des Formulierens als gute Nachricht erweist.


Ich verstehe mich dabei als Bergführer in die unwirtliche, extreme Zone jenseits der sicheren Pfade der Musik der Zivilisation. Ausgestattet mit metaphysischen Schwindelfreiheit und der existenziellen Bedächtigkeit, die es braucht, wenn aller Boden unter den Füßen wegsackt fühle ich mich wohl im Nichts und genieße den atemberaubenden Höhenrausch der absoluten Verunsicherung.

Soweit einige assoziative Überlegungen zu meinem Musikschaffen, insbesondere der Minimal Improvisation, die ich in Zusammenabeit mit Jennie Zimmermann im Rahmen von www.phyla.info entwickelt habe.

Formuliert unter Einfluss der Lektüre von:
Imre Kertesz: Galerentagebuch,
Holger Schulze (Hrsg): Gespür - Empfindung - Kleine Wahrnehmung,
Sebastian Kiefer: Was ist eigentlich "ästhetische Moderne"?

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