Mittwoch, 11. April 2012

Über meine Suche nach einem Verhältnis zu polyphonem Obertongesang

Ich bin als Musiker jemand, der gern aus der Hüfte heraus musiziert und auch beim Publikum auf die Hüfte zielt; für mich ist ein Konzert vor allem dann gut gewesen, wenn die Leute getanzt haben. Meine Musik soll dennoch auch Gedankenfutter sein und ich schätze auch alle möglichen Arten von Musik, die überhaupt nicht auf Tanz ausgerichtet sind.
Wenn Tanz und Körperlichkeit bei der Musik im Vordergrund stehen, dann braucht es auch beim Musik machen ein gewisses Maß an Körperlichkeit. Musiker einer Funkband z. B. spielen häufig Parts, die sich sehr komplex überlagern, aber die Parts der einzelnen MusikerInnen sind schlichter gehalten als der Gesamtzusammenklang und lassen sich quasi aus der Hüfte spielen.
Um derartige Komplexität als Musiker alleine zu demonstrieren braucht es einen extrem hohen Grad an Konzentration und Kontrolle, sehr feine Körperbeherrschung. Und solche Virtuosität bringt in meinen Ohren den Kopf in den Vordergrund, auf Kosten des Tänzerischen, des "Sich-gehen-Lassens". Das ist grundsätzlich weder gut noch schlecht, aber ich muss es berücksichtigen, der Gestus des Musizierens wird nunmal ein anderer.
Für mich ist das eine Erklärung, warum ich den polyphonen Obertongesang zwar theoretisch interessant finde, aber praktisch nicht so recht damit warm werde. Weil er nicht rockt - zumindest habe ich das bislang weder gehört noch selber zustande gebracht.

Ein weiterer, zusammenhängender Aspekt: Obertongesang ist für mich ein Zugang zu größerer Klangsinnlichkeit, zu einer genaueren Wahrnehmung der Physis des Schalls. Für ein gezieltes polyphones Musizieren mit Obertongesang braucht es aber eine intensive Aneignung von konzeptionellen Routinen: welche melodischen Phrasen sind von welchem Grundton aus möglich, in welchen Tonarten lassen sie sich sinnvoll einbringen, wie kombinieren etc.
Die Töne - Grundton und jeweils melodisch akzentuierter Oberton - sind dann Größen in einem abstrakten tonalen System, ihre Bedeutung erschließt sich aus ihrer Position und ihren Bewegungen innerhalb dieses Systems. Ihr tatsächlicher Klang tritt hinter ihre symbolische Bedeutung in so einem System zurück und hat nurmehr illustrativen Charakter. Damit kann man fantastische Musik machen. Aber wenn es darum geht, den Fokus stärker auf den Klang als solchen zu richten, dann gelingt dies eher in einer schlichten Struktur.

Mir dienen solche Überlegungen als Positionsbestimmung, um mir klarer zu werden, wo ich stehe; meine musikalischen Vorlieben in Beziehung zu setzen zu dem, was andere machen. Dementsprechend geht es nicht um allgemein gültige Aussagen sondern Tendenzen. Die Xhosa-Sängerinnen z. B. rocken trotz stetiger Grundtonwechsel. Diese bewegen sich aber in einem ganz eng abgesteckten Rahmen. Und musikalische Form kann natürlich auch effektiv die physischen Eigenschaften des Klangs herausstellen, aber enorm kultivierte Spiele mit Skalen und Akkordbeziehungen vermitteln einfach etwas anderes als eine archaische Klangerfahrung, berühren auf andere Weise.

Im Kontext treibender, groovender, auf Tanz, Grenzüberschreitung und Ekstase ausgerichteter Musik eignet sich der polyphone Obertongesang also wohl vor allem als Kontrast, als ein Aufspannen des akustischen Horizonts weit nach oben in das Körperlose, Ätherische hinein, um in Kombination mit brachialen, auf den Unterleib zielenden Klängen ein breites, energiereiches Spektrum musikalischen Erlebens aufzuspannen.


Obertongesang im Verhältnis zu persönlichem Ausdruck

Bodo Maass hat darauf hingewiesen, dass Obertongesang eine Möglichkeit sein kann, weniger von sich zu zeigen. Ich finde dies eine sehr interessante Möglichkeit: indem Assoziationen von Persönlichkeit in der Stimme zurück treten, bekommt die Stimme den Charakter eines Instruments und gelangt damit stärker auf eine Ebene mit anderen Instrumenten, mit Dingen. Das stellt heraus, wie wir Menschen eingebunden sind in die Dingwelt, in die Natur, dass wir trotz unserer Denkfähigkeit und Individualität an die physische, materielle Welt gebunden sind. Ich kann zwar eine Melodie aus der Obertonreihe gestalten, aber die Reihe ist mir vorgegeben. Mein Wille, mein Ich stößt hier sofort an Grenzen seiner Gestaltungsmöglichkeiten und mir gefällt es, diese Grenzen künstlerisch deutlich zu machen, da damit implizit auch die Grenzüberschreitung vom Ich zum Alles mitschwingt - eine mögliche Erfahrung von Transzendenz. Mein persönlicher favorisierter Ausdruck liegt also gerade im Ausdruck des Unpersönlichen.

Und natürlich ist auch das in andere Rollen schlüpfen, die Stimme als Maske, interessant, was naheliegt wenn man z. B. wie Wolfhard Barke improvisatorisch unter anderem bei Fantasiesprache, imaginären Worten ansetzt. Oder wenn man, wie ich das tue, mit Masken und Kleidung seine Erscheinung verrückt.

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