Freitag, 28. Dezember 2012

Victor Klemperer auf der Schwelle

Der Tänzer und Choreograph Felix Ruckert betreibt in Berlin die Schwelle7 als einen Ort sowohl für Tanz und Körperarbeit als auch SM und Bondage. Im Rahmen von Dreharbeiten zu einem Dokumentarfilm über die Schwelle 7 gab es die Möglichkeit, einige Tage die Arbeit von Felix zwischen kennen zu lernen, eine Möglichkeit, der ich nicht widerstehen wollte, nicht zuletzt um zu sehen, wie jemand anders seine Kunst und seine Obsessionen zusammen bringt. So sehe ich das, was Felix dort macht, so verstehe ich meine eigene Arbeit als Musiker & Performer. In diesem Rahmen gab es inspirierende Begegnungen mit witzigen SM-Unikaten, eine regelrecht meditativ angelegte Heranführung an Züchtigungs-Utensilien, von Felix wunderbar angeleitete Übungen zur Körperwahrnehmung und einiges mehr.

Parallel befand ich mich mitten in der Lektüre der Tagebücher von Victor Klemperer von 1933-1945. Die Themen in den Übungen und Scores in der Schwelle 7: Schmerz, Angst, Lust, Macht, Unterwerfung, Ohnmacht - diese Themen fand ich in den Tagebüchern unter ganz anderen Vorzeichen wieder. Klemperer, als Sohn eines Rabbiners im Dritten Reich als Jude definiert, beschreibt akribisch, wie sich Unterdrückung und Hetze gegen Juden immer weiter steigern und was das für seinen Alltag bedeutet. Als Linguist hat er dabei eine hohe Sensibilität für die Sprache, die er als "LTI - Lingua Tertii Imperii" analysiert hat, und beschreibt die Begebenheiten mit dem unaufgeregten, kühlen Gestus des seinen Gegenstand untersuchenden Wissenschaftlers.

Was mich bei der Lektüre immer wieder frappierte war der hohe Unterhaltungswert von Klemperers Notizen, wie viel Lesevergnügen die von ihm beschriebenen Gefahren und Schrecklichkeiten bereiten und das dieses Phänomen nicht auf mich als Leser beschränkt ist, sondern auch Klemperer selber immer wieder notiert, wie er die Umstände als "romanhaft" erlebt, wie er angesichts unzähliger Toter in seiner Umgebung immer wieder keine Trauer in sich feststellen kann, vielmehr die Regung "Hurra, ich lebe!" - auch wenn ihn dies irritiert.

Die Möglichkeit, dass Leid und Gefahr auch den Geschmack des Abenteuers, des atemberaubenden Erlebnisses bieten, sie ist befremdlich, und doch auch so naheliegend, besonders, wenn man gerade in einem Seminar Reitgerte und Lederpeitsche aneinander ausprobiert.

Diese Utensilien werden mich wohl nicht dauerhaft begleiten, die Motive und Ziele dahinter aber sicherlich schon. Nachdem ich nun alle Tagebücher und auch die LTI gelesen habe, beeindruckt mich an Klemperer am meisten seine Souveränität; wie feinsinnig er beobachtet und wie es ihm gelingt, sich ideologischen Überrumpelungen zu entziehen und trotz allen Anfeindeungen einen wachen, offenen Blick zu erhalten und seine Sicht klar, ja kühl zu formulieren.

Regelrecht lustvoll ist für mich Klemperers Rekonstruktion von Vereinfachungen, die die Nationalsozialisten in propagandistischer Absicht verwendet haben; die Kultiviertheit, die darin liegt, komplexe Sachverhalte auch als etwas Komplexes zu beschreiben, die "macht mich an", hat eine libidinöse Qualität und ich assoziiere sie mit meiner Freude an musikalischer Polyrhythmik - da wird nichts auf einen Nenner gebracht, sondern verschiedene Stimmen stehen als verschieden Nebeneinander.

Dienstag, 13. November 2012

Nibiru Transit & Lost World - Probe

Mit Blotch bei der Probenarbeit an "Nibiru Transit". Nach mehreren komplexeren, eher proggigen Varianten des Materials sind wir auf diese Version verfallen, die - schlichter und tanzbarer - eher zum Blotch-Profil passt. Die Unisono-Figur nach dem Intro hat in ihrem Offbeatcharakter etwas vom Rigidur-Basslauf... Wir haben nach der Videoaufnahme dann noch etwas weitergeschraubt am Arrangement, Michael wird an der Gitarre über den abschließenden Half-time-Abschnitt noch mal seine aufsteigende Achtelphrase spielen und damit den Schluss einleiten.



Und hier eine Proberaum-Version von "Lost World". Dennis mit Klicker auf den Ohren, was dem ganzen einen frischen Drive verleiht. Mir persönlich ist der Aufbau zum ersten "Refrain" etwas zu kurz und undynamisch, hat aber wiederum eine gewisse Kompaktheit. Naja und Verdaddeln im half-time part gibt´s von mir noch gratis dazu...

Donnerstag, 4. Oktober 2012

Stick of Joy @ Robodonien


Als Intro zum Blotch-Konzert in Robodonien kam der Stick of Joy zum Einsatz, erstmals mit Harfenklängen per Midi-Belegung.

Samstag, 29. September 2012

Mit Prudeef @ Robodonien

Beim Robodonien 2012 habe ich mich für eine Jam zu den großartigen Prudeeff (Pierre Gordeeff und Matthieu Prual) hinzugesellt, hier ein kurzer Auschnitt:

Blotch @ Robodonien

Ein paar Impressionen aus Robodonien. Danke für die Fotos an Christiane Kaja.

Freitag, 31. August 2012

Arbeiten an einem Duo-Programm

Zur Zeit bin ich in einer intensiven Probenphase mit Jennie Zimmermann für die Arbeit an einem gemeinsamen Programm. Dabei tasten wir uns von unseren künstlerischen Interessen hin zu einem gemeinsamen Profil. Hier ein Auszug aus einer Improvisation, bei der wir unsere Stimmen in Ableton live loopen und mit Effekten versehen. Unsere Laptops sind nicht rhythmisch synchronisiert, da wir an einem offenen, "ambientösen" Prozess interessiert waren.



Das folgende Video zeigt eine Probe für Vokalimprovisationen zu meiner Komposition "Afrobeant". Die Probe war vorbereitend für unseren ersten Kurzauftritt, im Rahmen des Freakshow-Festivals unter einem Baum im Garten der Villa Kuriosum in Berlin.



Wir haben darauf abgezielt, dort als organischer Teil des Gartens in Erscheinung zu treten, dementsprechend habe ich auch der Musik einen Möbelmusik-Charakter gegeben. Die Komposition "Afrobeant" besteht aus zwei Hauptstimmen, die sich in zwei bzw. dreitaktigen Zyklen wiederholen und einen ruhigen, aber doch rhythmischen, sanft walzernden Charakter haben, vielleicht einem afrikanischen Wiegenlied ähnlich. Um diesen Charakter zugunsten einer mehr statischen Situation aufzubrechen habe ich Stillen eingefügt, die nun mittels der Launch-Funktion in Ableton live unregelmäßig, aber durch Wahrscheinlichkeiten regelbar, auftreten. Das Tonmaterial, das nun erklingt, entspricht immer genau den Zyklen, erhält aber durch die umgebende Stille den Charakter des Fragmentarischen. Ich habe gelesen, das John Cage per Zufallsverfahren Stillen in traditionelle Choräle eingefügt hat, daher lag die Idee nahe, so ein Verfahren zu nutzen; mir macht´s großen Spaß, die Wahrscheinlichkeiten zu ändern und dementsprechend unterschiedlich dichte oder lose Fassungen des Stückes zu erhalten. Der Gesang in dem Video zu Afrobeant ist geprägt vom tastenden Versuchen, eine erste Improvisation, perspektivisch könnte er sich stärker auf das instrumentale Material beziehen und damit verschränken.


Die Kostümierung ist Teil unserer Suche nach einem gemeinsamen Charakter als Duo. Als Para Hybrid bin ich ein poetisch-sexuelles Zwitterwesen und bringe eine gewisse Anstößigkeit und Fragwürdigkeit mit, dafür gilt es einen stimmigen Rahmen zu finden und eine stimmige Konstellation zu finden. Das obige Video legt die Assoziation Phantasie-Person und Phantasie-Tier nahe, was einen Unterschied zwischen uns andeutet, der sich aber in der Musik und unserem gemeinsamen Singen nicht findet. Darum haben wir uns beim Auftritt für eine andere Lösung entschieden.







Als zweites Stück haben wir dort meine Komposition "Dishöz" gespielt, hier sind wir bei einer der ersten Proben dafür zu sehen.

Das Stück liegt schon lange bei mir in der virtuellen Schublade, es basiert auf einer rhythmischen Kette von 4, 3, 3, 3, und 4, 3, 3, 2. Der erste und zweite Teil sind nahezu identisch, nur in der letzten Impulsgruppe des zweiten Teils wird ein Ton ausgespart. Gemeinsam ergeben die Teile mit 13 bzw. zwölf Impulsen 25 Impulse, Jennie fiel dazu eine Phrase mit 12 Impulsen ein, die wir nun 12 + 12 + 1 singen, also nach jedem zweiten Durchgang einen Impuls Pause einsetzen, so dass beide Figuren die Länge von 25 Impulsen gemeinsam haben. Hier eine Skizze in Ableton live, wo die Überlagerung beider Phrasen zu hören ist:



(Ich würde das gerne mal mit mehreren Singenden statt Loops umsetzen, dann ist es lebendiger)

Übereinander gesungen ergeben die unterschiedlichen Akzentuierungen in den Phrasen - besonders zu Beginn des zweiten Teils beider Phrasen - wunderschöne polyrhythmische Spannungsfelder (ebenso auch die Ergänzung eines 2/4 Elements in der Percussion, dass sich dann zu dem ungeraden 25er Muster ständig verschiebt), nach denen ich mir die Finger lecke und deren Mehrdeutigkeit eine gewisse Spannung aufrecht erhält, auch wenn wir den Zyklus schlicht immer wieder wiederholen. Zumindest ich empfinde das so und es begeistert mich, musikalisch einfach bei einer Sache zu bleiben, nicht verschiedene Momente in einem Ablauf zu kontrastieren sondern die volle Konzentration und Intensität einem musikalischen Moment zu widmen.

Samstag, 11. August 2012

Freitag, 20. Juli 2012

Blotch @ Odonien Benefiz

Odonien ist eine wunderschöne Location in Köln die gerade von der Schließung bedroht ist. Mit Blotch sind wir seit Beginn beim dortigen Robodonien-Festival dabei, darum haben wir natürlich auch gerne beim Benefiz für Odonien gespielt. Hier ein paar Impressionen vom Gig, Dank an Christiane Kaja für athmosphärische Aufnahmen.

Samstag, 14. Juli 2012

Blotch @ Fusion 2012

Beim diesjährigen Fusion Festival haben wir auf der Dubstation gespielt, sehr schönes Ambiente dort! Unser Konzert was Samstag nacht, kurz bevor ein Regensturm eine Unterbrechung des gesamten Festivals erzwang... Glück gehabt!
Eine Entdeckung auf der Fusion waren die französischen "Kaly Live Dub", eine sehr coole Kombination aus Dub-typischen Studio-Gimicks und Live-Band. Und überhaupt: ein tolles Festival, sehr umsichtig organisiert, liebevoll durchgezogen und ordentlich durchgeknallt; sehr sympathische Mischung aus Elektronischer Musik und Bands. Und hier noch ein paar Glitzerbildchen von mir...

Neue Werkstatt



Zumindest für den Sommer habe ich eine neue Werkstatt bei Berlin bezogen. Da geht es jetzt an die Arbeit für ein Duoprogramm mit Performerin Jennie Zimmermann, freu mich drauf!

Montag, 21. Mai 2012

Aka Workshop

Im Rahmen des Klangfestival Naturstimmen in Alt St. Johann in den Schweizer Alpen fand ein Workshop zur Musik der Aka Pygmäen statt.

Für mich ein großartiges, inspirierendes Erlebnis.

Die transparente Hörbarkeit der einzelnen Stimmen war in dem halligen Kirchenraum etwas eingeschränkt, dennoch bekommt man einen Eindruck ihrer feinen Verzahnung in dieser wundervollen Musik.



Die unterrichtenden Aka haben unter dem Namen "Le Groupe Ndima" eine CD veröffentlicht und sind während ich das hier schreibe hier zu finden:
http://www.myspace.com/ndima

Dienstag, 24. April 2012

Bei Kolja Kugler in der Werkstatt

Beim Robodonien 2012 wollen wir Koljas bass playing robot mit Blotch zusammen auf der Bühne spielen lassen und fangen gerade an, daran zu tüfteln. Freu mich riesig drauf.
Hier ein paar Aufnahmen vom rockenden Roboter aus Koljas Werkstatt:

Mittwoch, 11. April 2012

Über meine Suche nach einem Verhältnis zu polyphonem Obertongesang

Ich bin als Musiker jemand, der gern aus der Hüfte heraus musiziert und auch beim Publikum auf die Hüfte zielt; für mich ist ein Konzert vor allem dann gut gewesen, wenn die Leute getanzt haben. Meine Musik soll dennoch auch Gedankenfutter sein und ich schätze auch alle möglichen Arten von Musik, die überhaupt nicht auf Tanz ausgerichtet sind.
Wenn Tanz und Körperlichkeit bei der Musik im Vordergrund stehen, dann braucht es auch beim Musik machen ein gewisses Maß an Körperlichkeit. Musiker einer Funkband z. B. spielen häufig Parts, die sich sehr komplex überlagern, aber die Parts der einzelnen MusikerInnen sind schlichter gehalten als der Gesamtzusammenklang und lassen sich quasi aus der Hüfte spielen.
Um derartige Komplexität als Musiker alleine zu demonstrieren braucht es einen extrem hohen Grad an Konzentration und Kontrolle, sehr feine Körperbeherrschung. Und solche Virtuosität bringt in meinen Ohren den Kopf in den Vordergrund, auf Kosten des Tänzerischen, des "Sich-gehen-Lassens". Das ist grundsätzlich weder gut noch schlecht, aber ich muss es berücksichtigen, der Gestus des Musizierens wird nunmal ein anderer.
Für mich ist das eine Erklärung, warum ich den polyphonen Obertongesang zwar theoretisch interessant finde, aber praktisch nicht so recht damit warm werde. Weil er nicht rockt - zumindest habe ich das bislang weder gehört noch selber zustande gebracht.

Ein weiterer, zusammenhängender Aspekt: Obertongesang ist für mich ein Zugang zu größerer Klangsinnlichkeit, zu einer genaueren Wahrnehmung der Physis des Schalls. Für ein gezieltes polyphones Musizieren mit Obertongesang braucht es aber eine intensive Aneignung von konzeptionellen Routinen: welche melodischen Phrasen sind von welchem Grundton aus möglich, in welchen Tonarten lassen sie sich sinnvoll einbringen, wie kombinieren etc.
Die Töne - Grundton und jeweils melodisch akzentuierter Oberton - sind dann Größen in einem abstrakten tonalen System, ihre Bedeutung erschließt sich aus ihrer Position und ihren Bewegungen innerhalb dieses Systems. Ihr tatsächlicher Klang tritt hinter ihre symbolische Bedeutung in so einem System zurück und hat nurmehr illustrativen Charakter. Damit kann man fantastische Musik machen. Aber wenn es darum geht, den Fokus stärker auf den Klang als solchen zu richten, dann gelingt dies eher in einer schlichten Struktur.

Mir dienen solche Überlegungen als Positionsbestimmung, um mir klarer zu werden, wo ich stehe; meine musikalischen Vorlieben in Beziehung zu setzen zu dem, was andere machen. Dementsprechend geht es nicht um allgemein gültige Aussagen sondern Tendenzen. Die Xhosa-Sängerinnen z. B. rocken trotz stetiger Grundtonwechsel. Diese bewegen sich aber in einem ganz eng abgesteckten Rahmen. Und musikalische Form kann natürlich auch effektiv die physischen Eigenschaften des Klangs herausstellen, aber enorm kultivierte Spiele mit Skalen und Akkordbeziehungen vermitteln einfach etwas anderes als eine archaische Klangerfahrung, berühren auf andere Weise.

Im Kontext treibender, groovender, auf Tanz, Grenzüberschreitung und Ekstase ausgerichteter Musik eignet sich der polyphone Obertongesang also wohl vor allem als Kontrast, als ein Aufspannen des akustischen Horizonts weit nach oben in das Körperlose, Ätherische hinein, um in Kombination mit brachialen, auf den Unterleib zielenden Klängen ein breites, energiereiches Spektrum musikalischen Erlebens aufzuspannen.


Obertongesang im Verhältnis zu persönlichem Ausdruck

Bodo Maass hat darauf hingewiesen, dass Obertongesang eine Möglichkeit sein kann, weniger von sich zu zeigen. Ich finde dies eine sehr interessante Möglichkeit: indem Assoziationen von Persönlichkeit in der Stimme zurück treten, bekommt die Stimme den Charakter eines Instruments und gelangt damit stärker auf eine Ebene mit anderen Instrumenten, mit Dingen. Das stellt heraus, wie wir Menschen eingebunden sind in die Dingwelt, in die Natur, dass wir trotz unserer Denkfähigkeit und Individualität an die physische, materielle Welt gebunden sind. Ich kann zwar eine Melodie aus der Obertonreihe gestalten, aber die Reihe ist mir vorgegeben. Mein Wille, mein Ich stößt hier sofort an Grenzen seiner Gestaltungsmöglichkeiten und mir gefällt es, diese Grenzen künstlerisch deutlich zu machen, da damit implizit auch die Grenzüberschreitung vom Ich zum Alles mitschwingt - eine mögliche Erfahrung von Transzendenz. Mein persönlicher favorisierter Ausdruck liegt also gerade im Ausdruck des Unpersönlichen.

Und natürlich ist auch das in andere Rollen schlüpfen, die Stimme als Maske, interessant, was naheliegt wenn man z. B. wie Wolfhard Barke improvisatorisch unter anderem bei Fantasiesprache, imaginären Worten ansetzt. Oder wenn man, wie ich das tue, mit Masken und Kleidung seine Erscheinung verrückt.

Freitag, 6. April 2012

Einige musikästhetische Überlegungen in Bezug zum Obertongesang

Hier ein Text den ich im Nachklang zum Alumni-Treffen von Wolfgang Saus Obertonschülern geschrieben habe; eher einige Gedanken zur Anregung eines Gesprächs und keine ausgefeilte Positionierung:


Einige musikästhetische Überlegungen in Bezug zum Obertongesang

Obertöne zu hören bedeutet eine Sensibilisierung der Wahrnehmung; wo vorher ein Ganzes, eine einzige geschlossene Gestalt war - der Ton - entdeckt man als Obertonanfänger nach einer Weile des Hinhörens eine Fülle von Teiltönen innerhalb dieses einen Tons. Dieser Sensibilisierungsprozess ist wie der Übergang von einem alltäglichen zu einem mikroskopischen Hören, es ist eine Überschreitung einer Wahrnehmungsgrenze. Für einen Obertonroutinier haben sich die Grenzen verschoben: nun gibt es neben der Kategorie des einen Tons noch die Kategorie Teiltöne, von denen in der Regel zwei, nämlich der Grundton und der jeweils betonte höhere Teilton, eine musikalische Rolle spielen. Bei mir persönlich trat an dieser Stelle ein gewisser Verdruss ein: das Hantieren mit zwei Tönen gleichzeitig kenne ich von der Gitarre, es ist nichts Besonderes, Faszinierende für mich. Darüber bin ich darauf gekommen, dass mich gerade der Prozess der Grenzüberschreitung, wie er beim Entdecken der Obertöne stattfindet ästhetisch interessiert, dass hier für mich das Besondere, Faszinierende liegt.

Grenzüberschreitung als ästhetisches Programm

Nun kann man etwas nicht immer wieder neu entdecken; wenn ich mein Hören einmal für die Obertöne geschärft habe, dann steht mir diese Art des Hörens künftig einfach zur Verfügung. Aber ich kann so singen, dass die Grenze immer wieder deutlich in das Bewusstsein der Hörenden rückt. Wie? Mit einer subtilen, nicht überdeutlichen Betonung eines Obertones, wobei der Grundton und weitere Obertöne gut hörbar bleiben. Wie bei einem Kipp-Bild kann die Wahrnehmung dann mal den Ton als gesamte Gestalt, mal die vielen einzelnen Bausteine in den Fokus rücken. Das offene, an der normalen Singstimme orientierte Singen, das Wolfgang zur Zeit für den Chorgesang vorschwebt geht in diese Richtung. Aber auch der sanfte Kehlgesang bei Huun Huur Tu hat häufig diese Qualität der Ambivalenz zwischen übergeordneter Gestalt und Einzelteilen. Bei dem auf maximale Deutlichkeit der Obertöne ausgerichteten Gesang von Hoosoo finde ich sie eher nicht, da steht Eindeutigkeit im Vordergrund.

Bei dem, was mich musikalisch und ästhetisch insgesamt interessiert, spielt Ambivalenz eine große Rolle. Sie erzeugt eine Art Reibung, eine Wachheit, da man ja ständig im Unklaren ist, ob es nun so, oder so ist und man also immer wieder neu einschätzen und beurteilen muss. Höre ich einen Ton, oder ist es doch ein ganzer Akkord? Auch bei der polyrhythmischen Verzahnung mehrerer Rhythmen ergibt sich Ambivalenz: unterschiedliche Betonungen konkurrieren miteinander, bilden ein Spannungsfeld aus Schwerpunkten, bei dem es keine Eindeutigkeit gibt. Bei meinen Auftritten als Musiker übertrage ich dieses Prinzip auch auf meine Erscheinung: ein Mischwesen zwischen Mann und Frau, Mensch und Fabelwesen.

Obertöne zu nutzen ist für mich ein Element in einer Ästhetik der Ambivalenz und Grenzüberschreitung. Diese Ästhetik schlägt sich auch kompositorisch nieder: musikalische Elemente so zu kombinieren, dass Reibung entsteht, Intensität, dass sich Räume des Möglichen öffnen und Lust aufkommt, sie zu erkunden. Meine Botschaft als Künstler ist eindeutig die Mehrdeutigkeit, Obertöne sind da ein wirkungsvolles Mittel.

Und sonst?

Hier schlaglichtartig ein paar musikästhetische Gedanken zu Obertongesang.

Es gibt Paradenummern, also Stücke, in denen der Obertongesang als besondere artistische Fähigkeit vorgeführt wird. Diese beziehen sich häufig auf spezifische existierende Genres: polyphoner Obertongesang im Stil von Bach, ein Oberton-Blues, etc. In kompositorischer Hinsicht sind diese Stücke retro - sie beziehen sich auf eine etablierte Formsprache, die allen geläufig ist, gerade dadurch lässt sich die Beherrschung von Technik und Genre gut demonstrieren. Ob das dann eine Paradenummer ist, hängt natürlich vor allem vom Kontext ab: wird das Stück einfach als Musik gehört, oder steht die Attraktion der technischen Meisterleistung im Vordergrund. Es liegt nahe, bei einer jungen, technisch anspruchsvollen Disziplin wie dem polyphonen Obertongesang den Fokus auf die Präsentation des Könnens zu legen. Indem man die Ästhetik hinten anstellt begibt man sich aber in das Getto der Oberton-Fachleute und wird für "Uneingeweihte" zur kuriosen Zirkusnummer, die wohl bestaunt, aber nicht ernst genommen wird.

Einen Gegenpol dazu bildet das gemeinsame Tönen. Hier spielt Virtuosität in der Regel keine Rolle. Häufig kommt dieses Tönen ohne konkrete musikalische Figuren aus, also ohne melodische Verläufe mit spezifischer Rhythmik. Das Amorphe, Ungreifbare ist meist eine zentrale Qualität. Das Ein- und Ausklingen einzelner Stimmen geht häufig im Gesamtklang unter, Veränderungen im Klangbild sind nicht genau fassbar und die Zusammenklänge so komplex, dass sie sich oft nicht eindeutig einordnen lassen. Ähnlich wie bei der Sensibilisierung des Hörens für die Obertöne findet also auch hier eine Grenzüberschreitung statt, weg von fassbaren Strukturen hin zum Klang, der in den Mittelpunkt gestellt wird. Das Weglassen von Strukturen kann zu einer erhöhten Sensibilität für den Klang führen, oder die Musik zu einer Begleiterscheinung eines entspannenden, gemeinschaftlichen Rituals machen. Das Tönen hat als Praxis eine Nähe zu Techniken der Meditation oder auch Selbsterfahrung und die Ungreifbarkeit der Klangergebnisse legt Assoziationen zum Transzendenten nahe.

Wolfgangs (Saus) Interesse an notierten Chorwerken für Obertonsingende verstehe ich als einen Versuch, diese transzendente Qualität in einen wieder stärker musikalisch strukturierten Rahmen hinüber zu holen. Praktisch können dabei durch die technischen Anforderungen die Leichtigkeit und Unmittelbarkeit des Tönens verloren gehen. Die Musik nimmt im Gegensatz zum Tönen hier wieder die Form des bewusst Gestalteten an, das Ungreifbare findet seinen Platz als eines von mehreren Elementen inmitten eines überschaubaren, nachvollziehbaren Geschehens. Wie flirrendes Licht in einem klaren Raum.

Soweit ich es einschätzen kann setzt Wolfhard (Barke) wiederum ganz woanders an, bei den Ausdrucksqualitäten der sprachfreien Stimme und der strukturierten rhythmischen Improvisation.
Es gibt viele weitere Ansatzpunkte, von denen aus man Obertongesang verwenden kann und ich glaube, dass es gut ist, sich in der musikalischen Praxis auch darüber austauschen, in welche Tradition, in welchen Kontext man sich damit stellt oder auch womit man bricht; welche Bedeutungen man damit verbindet, bzw. ob man "einfach so" musiziert. Meiner Wahrnehmung nach kommen viele derjenigen, die sich für das Obertonsingen interessieren mit Motivationen der Selbsterfahrung, des Erlebens. Aus diesem Blickwinkel sind musikästhetische Überlegungen keine Selbstverständlichkeit, ich hoffe dass deutlich geworden ist, dass sie dennoch eine Bereicherung sein können und würde mich über einen regen Austausch freuen.

Montag, 2. April 2012

Blotch live @ LiLu

Bilder vom Konzert gemeinsam mit Ur in Lippstadt. Baströcken und Kokosnussbikini sind frisch aus Hawaii importiert...




Sonntag, 5. Februar 2012

Flyer Obertongesang und Polyrhythmik





Mit Christina Bähne biete ich im März einen Workshop zu Obertongesang und Polyrhythmik an. Der Flyer dazu zeigt Reflexionen in den Wellen des Mains, wie er durch Würzburg fließt und denen man bescheinigen muss, dass sie enorm kunstsinnig sind...

Christinas Seite:
http://praxis-baehne.webnode.com/



Paper Dolls


Ich habe gerade ein paar Tage für die Produktion "Paper Dolls" von Jana Korb technischen Support bei der Realisierung der Musik von Jennie Zimmermann geleistet. Premiere war in Prag, wenn´s warm wird soll es auch Aufführungen in Deutschland geben. Das Stück basiert auf dem Roman "Cat´s Eye" von Margaret Atwood und beschwört mit Luftartistik, Textfragmenten und Musik Erinerungen an eine Kinderfreundschaft voller Spannungen, Ängsten und Machtkämpfen herauf. Eine interessante Mischung, ich habe Akrobatik vorher noch nicht so sehr im Dienste des Erzählens anstatt des Spektakels erlebt.

Texte, Klänge und Musik für das Stück sind komplett in Ableton live arrangiert und werden nun, nachdem Timing und Lautstärkeverhältnisse perfektioniert sind, zu den Aufführungen als Playback abgespielt.

Mittwoch, 25. Januar 2012

Blotch Probenarbeit



Theda Bara war eine ganze Weile nicht mehr im Blotch Repertoire, hier versuchen wir uns an einem neuen Arrangement...

Blotch @ URspektacL.3



Kleiner Werbeclip fürs nächste Konzert, zusammengeschnippelt aus Bildern der letzten Fotosession mit Christina Zajber.